Historie

Gut sortiert. Vinyl Singles und LPs

33 ⅓ Schallplatten

So begab es sich also im Jahre des Herrn 1983, dass Bernie B. und Toni einen Plattenladen gründen wollten. Schnell war eine Garage in Duisburg-Duissern auf der Moltkestraße gefunden – der Legende nach, war es sogar die Nr. 33. Dort stellte man sodann einige Tische auf und bot Vinyl feil. Und zwar das, was so über war: Stones, Kinks, Who, dies und das. Da Bernie B. sich zunehmend aus dem Verkauf zurückzog, stieß irgendwann Mike Voigt zur lustigen Truppe der Vinylverkäufer und erwarb die Anteile von dem, der da gehen wollte. Nunmehr schrieb man das Jahr 1985 und neben den Granden der Rockmusik wurden auch Scheiben angekauft und wieder verkauft von The Clash, The Lurkers, The Damned und den Sex Pistols, um nur einige zu nennen. Etwa zu jener Zeit, vielleicht auch früher, stieß ein junger Stenz auf den Laden und tauschte dort fortan jede Mark, die er als Schüler verdiente, gegen pures Gold: Vinyl! Von diesem Stenz wird noch zu berichten sein.

Schallplatten soweit das Auge reicht

Größere Fläche, mehr Vinyl

Die Garage wurde irgendwann zu klein. Unweigerlich hieß es, ein Umzug müsse her. Da Toni und Mike nicht aus Duissern wegwollten, warteten sie, bis ein Ladenlokal auf der gleichen Straße frei wurde, was dann mit dem auf der Moltkestraße Nr. 47 auch tatsächlich passierte. So zog man noch in den 80er Jahren des letzten Jahrtausends um und breitete sich auf rund 70 Quadratmetern im neuen Ladenlokal aus. Wow, das war plötzlich ein völlig anderer Schnack! Man hatte Fenster, die es zu gestalten galt. Man hatte Platz, den es mit Platten zu bestücken galt. Man baute Möbel, man schichtete um, man stellte Schallplatten nebeneinander, damit es gefüllt aussah.

 

Die CD macht sich breit

Der Laden lief, der Laden wurde bekannt. Erste Zeitungsartikel tauchten auf, Vinylfans sprachen es rund. Dann kamen die 90er Jahre und viele Musikfans glaubten nur noch an die CD. So bot auch das 33 ⅓ eine bescheidene Ecke mit CDs an. Gut, die Ecke wurde auch mal größer und wahrscheinlich sind zwei- bis dreitausend Silberlinge zu finden. Eine große Liebe wurde dieses Format freilich nie. Daher können wir das Thema auch im weiteren Verlauf der Betrachtung außen vor lassen. 

Viel Vinyl und ein bisschen CD
Vinyl von der Moltkestraße 47

Der Tod der Schallplatte?

Überall in der Welt bekam die CD größere Marktanteile. Überall? Da gab es doch dieses kleine Duisburger Dorf, in dem sich ein Schallplattenladen befand. Richtig gelesen: Schallplatten-Laden. Oder auch Schallplatten Laden. Je nach Rechtschreibreform. Genau dort also hielt man den Glauben an das Vinyl als wahre Quelle des Musikgenusses hoch. Immer noch verkauften Mike und Toni Singles, also 7-Inches, EPs als 7’, als 10’, als 12’ und LPs, also 33er oder 12-Inches. Wichtig war der Rohstoff. Wichtig war, es musste Vinyl sein. Ungläubige sprachen schon vom Tod der Schallplatte.

 

Zeitenwende

Aber Zeiten ändern sich auch wieder. Das Vinyl war nie wirklich tot. Zwar hatte es in den 90er Jahren und in den Nuller-Jahren kaum noch Marktanteil, hielt sich aber in Liebhaberkreisen beständig. Vielleicht nicht völlig unschuldig – zumindest an einer regionalen Besinnung auf die Möglichkeiten, die ein klassischer Schallplattenladen bot, ist der oben genannte Stenz, von dem ja noch zu berichten sein sollte. Dieser Bursche, Zepp Oberpichler des Namens, war über die Jahre ein regelmäßig auftauchender Stammkunde geworden, hatte sich durch eigene Schallplattenveröffentlichungen mit diversen Bands einen bescheidenen Namen gemacht und ein paar Bücher geschrieben.

Mike und Zepp im Plattenladen
 Fotografie: Michael Neuhaus
Zepp Oberpichler in einer Anthologie

Von Menschen und Orten

Zum Ende der Nuller-Jahre wurde Zepp vom Verlag Henselowsky Boschmann, in Person Werner Boschmann, gefragt, ob er nicht einen Artikel über seinen persönlichen Lieblingsplatz in seiner Heimatstadt schreiben möchte, da gäbe es dieses Buchprojekt in Zusammenarbeit mit dem WDR. Für Zepp war keine Frage, was sein Lieblingsplatz in Duisburg war und ist und so schrieb er los:

33 1/3 Jahre LSD in Duisburg
von Zepp Oberpichler

Duisburg ist ja bekanntermaßen keine Designerstadt. Duisburg ist nicht einmal eine schöne Stadt. Und schon gar nicht war Duisburg das in den Achtzigern. Damals zeichnete sich Duisburg lediglich durch Schimanski aus. Immerhin: Er war es, der Duisburg auf die Landkarte der Beachtung hob. Geradezu lächerlich finde ich daher heutige Lippenbekenntnisse von leitenden Beamten der Stadt, dass Duisburg beileibe nichts mehr mit dem Schmuddel von Schimanski zu tun habe. Die Düsseldorfisierung von Workingman’s City. 

Wie dem auch sei, mein Duisburg und besonders das in den achtziger Jahren, war ein grauer, regnerischer Haufen Industrie-Müll mit Hafen und jeder Menge Autobahn. Egal, wo man in Duisburg war, innerhalb von drei Minuten war man auf irgendeiner Autobahn: A 3, A 40, A 42, A 52, A 57, A 59. Das ist heute noch so. So viele Autobahnen, und jede führt hinaus. Raus aus der Stadt. Raus aus dem Regen. Raus aus dem Grau. Einzige innerstädtische Fluchtpunkte: Sechs-Seen-Platte, Rahmer Baggerloch, Entenfang, Rheinwiesen, Ruhrdamm.

Warum fallen mir eigentlich jetzt gerade die achtziger Jahre ein? What ever happened to the eighties? Also irgendwie entwickelte ich in den Achtzigern so etwas wie meinen eigenen Stil. Und eine kleine Institution in Duisburg, die hatte großen Anteil daran: Das 33 1/3 in Duissern auf der Moltkestraße. Das 33 1/3 liegt im Parterre in einem typischen Mehrfamilien-Reihenhaus und präsentiert alte und neue Scheiben von A bis Z, von Blues bis Punk, von Jazz bis Pop, von Kraut bis Salat. 

Ganz besonderes Augenmerk ist immer auf die linke Schaufensterhälfte zu richten, da dort selten gesehene Singles, Tourposter und allerlei Gimmicks aus der jeweiligen Zeit ausgestellt werden. Noch heute kann man dort hin und wieder dutzende Cover der Byrds oder Who sehen. Wo hat man so etwas Schönes noch? In den letzten knapp 30 Jahren habe ich einige hundert Scheiben aus diesem Raum getragen, der wohl gerade 50 Quadratmeter misst. Toilette und Teeküche sind natürlich inklu! In Summe habe ich mehrere komplette Wochen meiner Lebenszeit dort verbracht. Keine Sekunde zu viel! Eher einige zu wenig, wenn ich bedenke, mit welchen Heinis ich schon Zeit vergeudet habe. 

Kommen wir also zum Wesentlichen – dem Fund essentieller Platten: Die erste Stiv Bators auf Bomp in 10 inch! Die erste Chesterfield Kings original aus New York! Da sind Human Beinz und das Legend-Schuh-Album ja schon fast Standard. 20.000 Scheiben, 30.000? Große, kleine, LPs, Singles, Flexis. Und wo früher ab und zu auch Tapes von der Wand grüßten, stehen heute CD-Boxen. Aber hauptsächlich gibt es Vinyl. Gut riechendes, schwarzes, zum Anpacken einladendes Vinyl. Mehr Sex ist selten. 

Egal wie häufig ich auch dort war, einen Tag werde ich wohl nie vergessen. Es muss 1982 gewesen sein, ich radelte wieder einmal mit meinem alten Silberpfeil nach Neudorf, um dort an der Uni zu schnuppern. Dazu muss man erwähnen, dass die Schule, meine war das Mannesmann-Gymnasium in Duisburg-Huckingen, den Oberstufen-Schülern immer wieder einen Info-Tag an der Uni spendierte. Und während das Gros meiner Mitschüler in irgendwelche Wiwi-Kurse schaute oder Maschbau inspizierte, zog es mich allenfalls in die Bibliothek oder in den Wald hinter der Uni, um dort in aller Seelenruhe einen Flachmann Pennypackers zu gurgeln und einen Stumpen Sportstudent zu rauchen. Sportstudent war zu der Zeit das beliebteste Rauchkraut von Tom und mir, feine Zigarillos, zu zehnt in der Pappschachtel für einsachtzig, D-Mark, wohlgemerkt. Das Leben war so einfach damals. Später kamen dann noch Schulzi und Reimi auf den Geschmack, und Achmet qualmte eh alles, was irgendwie entzündlich war – doch das nur am Rande. 

An diesem Tag im Jahre 1982 also begab ich mich hingegen nach einigen Minuten hide-and-seek auf mein Fahrrad, um meinen Geburtsort zu verlassen – tatsächlich bin ich in den Sechzigern auf dem heutigen Unigelände geboren worden und zwar genau dort, wo später der ASTA ansässig war und Punk- und Blueskonzerte stattfanden. Ein Schelm, wer jetzt Böses dabei denkt.

Also, nach einigen Minuten auf dem Gelände der Hochintelligenz verabschiedete ich mich zügig Richtung Moltkestraße. Wie so häufig fing es nach einigen Metern Trampelei aus Kübeln an zu schütten, und die letzten Meter bis zum Ziel schoss ich geradezu über den Asphalt. Im 33 1/3 angekommen, hängte ich meine völlig durchnässte Jacke über den Stuhl gegenüber von Ladenhüter Mike, ging schnell nach nebenan zur Bude, kaufte zwei, drei Flaschen KöPi und machte mich, wieder im Laden, auf meine Entdeckungstour. Und plötzlich knallte so etwas wie ein Evangelium aus den Boxen: »Dö dödö dö dö dödö everybody’s talking ’bout my LSD.«

Kennen Sie den Moment, in dem einem der Blitz in die Glieder fährt? »Maaiiik, was ist das denn?«, kam es von meinen dicken Negerlippen; ich stand bei Blues (Obacht: Das würde man heute aus Gründen politischer Korrektheit natürlich so nicht mehr schreiben. Wir halten uns hier lediglich an die korrekte Wiedergabe des historischen Textes.). Ich war nicht geschockt, ich war nicht angewidert, ich war erweckt, ich war kuriert, ich war am Leben, endlich am Leben. Wie nach den Flamin’ Groovies, wie nach Thin Lizzy, wie nach Dave Edmunds, wie nach Rory Gallagher, wie nach den Saints, wie nach den Damned. Meine Moleküle tanzten Samba. Mein Blut, vorher noch ein gleichmäßiger, lauer Strom, wurde zum reißenden Fluss. Meine Füße sofort eiskalt, meine damals noch vorhandenen Haare reine Glut. Mein Nordpol süd. »Was ist das? Wer ist das? Was kostet die? Ich nehm´ alle!« 

Mike verschränkte die Arme vor der Brust, grinste mich an, das Geschäft seines Lebens witternd: »Wie, du kennst die Pretty Things nicht?« Ouch, das hatte gesessen! Die Pretty Things, klar, die, die noch wilder waren als die Stones: Sex vor der Ehe, Bier aus der Dose, Schule nur von Weitem. Natürlich kannte ich DIE. Natürlich kannte ich das Foto von Drummer Vic Prince, nachdem er in Stockholm von Teddy Boys zusammengeschlagen worden war; es hing ja an jeder Laterne. Natürlich kannte ich »Roadrunner«. »Natürlich, die Pretty Things, klar. Kam gerade nicht drauf.« Täuschte ich mich oder sagte mir der Blick von Mike tatsächlich, dass er mir kein Wort glaubte?

Mit zitternden Händen griff ich nach dem hingereichten Cover: »ATTENTION! The Pretty Things!« Das stand da unmissverständlich geschrieben, eingemeißelt, umrandet von pinkfarbenen Sternen. Darunter ein Foto, das fünf Hänger in der Pampa vor einer Holzhütte stehend zeigt. Keine Konfirmation, kein Bewerbungsbild. Die totale Geringschätzung strahlte mir entgegen: »Du willst mich anmachen?«, schien es zu sagen: »Du? Ich zähle jetzt mal bis drei, und dann schauen wir, was von dir übrig ist.« Keine Landpartie zu Ostern. Beileibe nein! Hier kommt pures Dynamit, das war mir sofort klar: »Here comes trouble.« Tie ar ou juh bie ell ieh!

Das passte zu der Stadt, die mich umgab. Das passte zu den Leuten in dieser Stadt. Rüpel allesamt. Große Fresse, schlechter Atem. Herzlich willkommen und zisch ab. Raue Schale, weicher Keks. Duisburg war immer Blues-Rock oder Punk. Duisburg war immer einen Zehner gesetzt und einen Zwanni verloren. Duisburg war immer unter dem Teppich. Und genau das habe ich geliebt. Und genau davon ist nichts mehr übriggeblieben. Ist ja alles so schön bunt hier, im Hafen der Kulturhauptstadt. Wer wird eigentlich für so einen pseudopfiffigen Slogan bezahlt? Nee is klar, die ganze Welt weiß, dass die Hansestadt Duisburg den Atem des Meeres haucht. Bitte mehr Salz, pardon, Meersalz auf den Hering. Es ist ein Land voller Gegensätze. Einblicke in eine geschlossene Gesellschaft.

Unter dem Logo ATTENTION! der altehrwürdigen Schallplattenfirma fontana, wurden Compilations für Unwissende wie mich herausgegeben. Für Unwissende mit kleinem Geldbeutel. Der kreisrunde, goldene Sticker mit den Worten: »Sonderpreis DM 10,- Unverbindliche Preisempfehlung« pappt heute noch auf dem Cover. Die Platte selbst wurde gut eine bis fünf Millionen Mal im Hause Oberpichler gehört, und mein Lieblingslied war irgendwann nicht mehr »L.S.D.«, sondern »I can never say«, was direkt danach kam. Das war meine Musik, das war mein Soundtrack, das war schon in den Achtzigern total unmodern. And I still love it!

Das Bier leer trinken, die Platte kaufen, die zehn Kilometer nach Hause zurückfliegen, die Tür zu meiner Muffbude aufstoßen und diesen Fund auf den Dual betten, waren eine Bewegung. 

Frei!
Endlich frei!
Aufgehoben in Musik.
Der besten der Welt.
Danke, 33 1/3! 
Tonight I’m gonna rock tonight.

(Aus: Von Menschen und Orten. Herausgegeben von Monika Buschey, Verlag Henselowsky Boschmann, 2010. Mit freundlicher Genehmigung zur Veröffentlichung von Werner Boschmann persönlich. Danke dafür.)

 

Vinyl is strong again

So vergingen die Jahre, Toni starb und Mike führte den Laden alleine weiter. Immer wieder kamen einige Aushilfen dazu: Cheesy, Emil, Ricky und wie sie alle hießen. Die Konstante hieß allerdings: Vinyl. Und das ist bekanntlich seit einigen Jahren wieder voll im Trend. Nicht nur die Alten, die es schon immer besser wussten, auch zahlreiche junge Zeitgenossen wenden sich wieder dem Schwarzen Gold zu und kaufen die beidseitig bespielbaren Schallplatten, wo sie anzutreffen sind. Und wo kann man sie besser antreffen, als in freier Wildbahn: Dem Schallplattenladen?

 
Die Schallplatte läuft immer weiter. Vinyl is strong again.
Mike und Zepp vor dem Plattenladen 33 1/3
Foto: Jonkmanns

2020 / 2021

Nach 35 Jahren hinter dem Tresen des 33 ⅓ geht Mike in Rente. In die wohlverdiente, wie sich von selbst versteht. Allerdings geht er diesen Schritt nicht, ohne sich lange Gedanken gemacht zu haben, in welche Hände der Laden, der Schallplattenladen, das Geschäft mit den Tonträgern, zu geben sei. Da fiel ihm wieder dieser Stenz ein, der mal diese Geschichte geschrieben hat, der immer wieder da war und etwas gekauft hat, der mal angeboten hat zu übernehmen, wenn es dazu kommen sollte. Und so fügte es sich in 2020, dass Mike und Zepp einige Gespräche führten, wie der Laden weiterhin bestehen könnte. Und siehe da: Ab dem 1. Januar 2021 übernimmt Zepp Oberpichler offiziell die Leitung des Ladengeschäftes.

In diesem Sinne:

Long live Vinyl!

Long live 33 1/3 Schallplatten in Duisburg-Duissern!